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Volkstrauertag 2021

Vier Todesnachrichten in einer Familie – so viel Trauer, so viel Schmerz. Dass ein Jugendchor und Bundeswehr-Musiker Reinhold Beckmann und seine Band bei dem Lied „Vier Brüder“ begleiteten, hatte mehr als nur symbolische Wirkung am Volkstrauertag im Deutschen Bundestag. Bei der Zentralen Gedenkstunde des Volksbundes standen dieses Stück und die musikalische Besetzung auch für das, was Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als Gedenkredner hervorhob.

Erinnern – „was hat das mit mir zu tun?“, zitierte er die Frage nachfolgender Generationen und sagte: „Wir müssen sie beantworten können! Wir verstehen nur, wer wir sind und was uns bewegt, wenn wir wissen, wer und was uns vorausgegangen ist.“

Auch das Schicksal der Familie von Musiker und TV-Journalist Reinhold Beckmann, in der vier Söhne im Zweiten Weltkrieg starben, steht für unermessliches Leid an zahllosen Orten in der Welt. Alfons, Hans, Franz und Willi, die vier Brüder von Reinhold Beckmanns Mutter Aenne, waren in den Jahren 1942 bis 1945 gefallen. In seinem berührenden Lied „Vier Brüder“ bezeichnet Beckmann die Geschwister als "Finger einer Hand" und fragt: "Wenn vier Finger fehlen, ist das noch eine Hand?" Unterstützt von Chor und Bläseroktett intonierte Beckmann mit seiner Band das Lied im Bundestag als emotionalen Höhepunkt der diesjährigen Gedenkstunde.

Wenn das Gedächtnis scheut...

Frank-Walter Steinmeier erinnerte an „unermessliches Leid“ an Orten, die bisher keinen Platz im gemeinsamen Gedächtnis haben. Mit Blick auf den Überfall der deutschen Wehrmacht vor 80 Jahren auf die Sowjetunion und den Balkan sagte er: „Unser Gedächtnis scheut, wenn es Auskunft über Krieg und Verbrechen im Osten und Südosten Europas geben soll.“ Er sprach von unzähligen Massenverbrechen an Zivilisten, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.

Den Namen dieser Orte zu kennen, mache einen Unterschied, sagte Steinmeier – „für unser Selbstverständnis als Nation und für ein gemeinsames Verständnis als Europäer auf diesem Kontinent“. Es sei auch wichtig zu wissen, was diese Orte mit der Gegenwart verbindet. Wir alle „sind Glieder einer zerbrechlichen und doch erstaunlich haltbaren Kette von Generationen, Schicksalen und Kämpfen, in der sich die historischen Ereignisse unablässig entfalten“, zitierte er den israelischen Historiker Omer Bartov.

Schwere und schwerste Verantwortung

Mit Blick auf die Gegenwart rückte Steinmeier auch die Bundeswehr in den Fokus: „Verantwortung vor unserer Geschichte anzunehmen, darf nicht bedeuten, die Auseinandersetzung mit den Konflikten der Gegenwart zu scheuen und mit denen, die darin schwere und schwerste Verantwortung tragen. Auch deshalb ist der Volkstrauertag ein wichtiger Tag.“

Manches Unbehagen gegenüber den Auslandseinsätzen der Bundeswehr sei verständlich und was sie bedeuten an Leid und Tod „verdrängen wir Deutschen gern“. Doch die Demokratie verlasse sich auf die Bundeswehr, lege die Sicherheit und die Verantwortung gegenüber der Welt und den Verbündeten in ihre Hände. Die „Sprachlosigkeit vieler Teile der Gesellschaft gegenüber unserer Armee“ zu überwinden – auch das sei Auftrag am Volkstrauertag.

Früher Opfer, heute Freunde

Von einer „ungeheuren Versöhnungsleistung, für die wir sehr dankbar sind“, hatte Volksbund-Präsident Wolfgang Schneiderhan bei der Begrüßung gesprochen. „Die, die vorgestern Opfer der deutschen Aggression geworden waren, haben uns gestern die Hand gereicht. Sie sind heute unsere Freunde und wir wollen mit ihnen gemeinsam das Morgen gestalten.“

Diese Versöhnung sei nur dank eines klaren Bekenntnisses zur Schuld möglich und zu einer „Verantwortung, in der wir alle stehen“ und die nicht verjährt. „Wir können nicht stolz sein auf deutsche Dichter und Ingenieure“, auf Komponisten, Wissenschaftler, wirtschaftliche und kulturelle Leistungen und dabei so tun, „als hätten wir nichts zu schaffen mit dem Nationalsozialismus und den ungeheuren Folgen des Krieges, des Holocausts“, mit Verfolgung, Zerstörung und Unterdrückung. „Zur Versöhnung gehört, dass wir das Leid der anderen anerkennen. Deshalb gedenken wir nicht nur der deutschen Opfer, sondern auch der Opfer der Deutschen.“

„Wie sehr dieses Fehlen betrifft“

Ausdrücklich gedachte er auch der „Millionen toter deutscher Soldaten, die in einen mörderischen Angriffs- und Vernichtungskrieg geschickt“ worden waren. Besonders aber hob er das Leid der Völker in Ost- und Südosteuropa – von Polen über die Sowjetunion bis nach Griechenland – im Rahmen des deutschen Vernichtungsfeldzuges hervor: den systematischen Terror und Massenmord unter der Zivilbevölkerung, ausgeübt von Einsatzgruppen, die auf die Wehrmacht folgten.

Wie aktuell der Verlust eines Menschen auch Jahrzehnte später sein und bleiben kann, zeigten Tausende Anfragen an den Volksbund. Auch junge Menschen spürten wieder stärker denn je, wie sehr die, die im Krieg getötet wurden, fehlen, und wie sehr dieses Fehlen auch sie betreffe.

„Europäer der Zukunft werden“

Betroffen sein von den Wunden der Vergangenheit und das als Potenzial für Friedensarbeit über Ländergrenzen hinweg nutzen – wie das geht, schilderten drei junge Menschen. Der Grieche Georgios Ioannis Ilkos aus Thessaloniki war mit PEACE LINE, dem neuen Jugendformat des Volksbundes, an  Gedenkorten in Berlin, Riga, Danzig, Kaunas und auf Usedom gewesen. Entscheidend sei es, einseitige Geschichtsdarstellungen zu überwinden, andere und ihre Sicht auf die Geschichte kennenzulernen und dadurch „Europäer der Zukunft“ zu werden. „Die Herausforderung dieser Tage besteht darin, sich für die solidarische Seite zu entscheiden und nicht für die trennende.“

Daria Mehrkens aus dem russischen Archangelsk und Tim-Benedikt Attow aus Thüringen stellten die Volksbund-Workcamps vor. Die junge Russin hatte 2011 erstmals des „Lager Sandbostel“ mit Gedenk- und Kriegsgräberstätte in Niedersachsen besucht. Heute gestaltet sie als Teamerin internationale Jugendbegegnungen dort, wo früher vor allem sowjetische Kriegsgefangene litten und starben. Sie zitierte Aleida Assmann: „Erinnern ist Arbeiten an der Zukunft“ – genau das gelinge an Orten wie diesen, wenn sich junge Menschen „aus allen Ecken der Welt“ mit Frieden und Krieg, Europa und Demokratie auseinandersetzten.

Tim-Benedikt Attow aus Erfurt plädierte dafür, Weltgeschichte an historischen Orten mit Schicksalen zu verknüpfen, um verschiedene Facetten von zwei Weltkriegen im Ansatz begreifbar zu machen. „Das leisten unsere Camps seit fast 70 Jahren und so gelingt erinnerndes Gedenken“, sagte der Vorsitzende des Volksbund-Nachwuchses (Bundesjugendarbeitskreis).

Nationalhymne mit Chor und Oktett

Das 2020 erweiterte Totengedenken sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Nach einer Gedenkminute ertönte das Totensignal, gefolgt von der deutschen Nationalhymne. Der Landesjugendchor Thüringen und das Kammerensemble des Musikkorps der Bundeswehr Siegburg intonierten sie zusammen.

Zu den Gästen in Bundestag gehörten auch die höchsten Vertreter der Verfassungsorgane: die neue Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas, der Bundesratspräsident Bodo Ramelow (Ministerpräsident Thüringen), Prof. Dr. Stephan Harbarth (Präsident des Bundesverfassungsgerichts), Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, Cornelia Seibeld (Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin), Michael Müller als Regierender Bürgermeister Berlins und der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn. Repräsentanten der Glaubensgemeinschaften waren dabei und zum ersten Mal auch Zsolt Balla, der Militärrabbiner der Bundeswehr.

Fragen stellen, zuhören

Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung sprach der Bundespräsident mit den drei jungen Leuten unter anderem über die Ukraine, wo er kürzlich „vergessene“ Orte des Grauens besucht hatte. Auch wollte er ihre Einschätzungen zu den Konflikten in der Ostukraine wissen.

Die Zentrale Gedenkveranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurde live von der ARD, Phoenix und im Parlamentsfernsehen übertragen und ist unter anderem in der ARD-Mediathek zu sehen. Schon am Vortag hatte der Volksbund an verschiedenen Orten in Berlin bei Gedenkveranstaltungen an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erinnert. Ein weiterer Bericht folgt.

Ein Interview, das der Volksbund mit Reinhold Beckmann über den Song „Vier Brüder“ geführt hat, finden Sie hier: „Der vierte stumme Schrei“.

 

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