Eine zerstörte Hoffnung und Reaktionen darauf standen im Mittelpunkt der Zentralen Gedenkstunde des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge am Volkstrauertag im Bundestag. Als „globales Vorbild” bezeichnete der lettische Staatspräsident Egils Levits die deutsche Vergangenheitsbewältigung. Sie habe den Weg in eine grenzübergreifende Rechts- und Wertegemeinschaft nach 1945 geebnet. Russland sei ein „krasses Gegenbeispiel” dazu.
Mit dem 67-jährigen hatte der Volksbund das Staatsoberhaupt eines Landes eingeladen, das abwechselnd unvorstellbar unter deutscher und sowjetischer Besatzung gelitten hatte. Eine breite Volksbewegung gegen das Diktat der Sowjetunion habe 1991 zur staatlichen Unabhängigkeit geführt und gezeigt, was Mut und Zivilcourage bewirken könnten, sagte Volksbund-Präsident Wolfgang Schneiderhan bei der Begrüßung.
Lettland und seine baltischen Nachbarn hätten damit eine „Fackel für Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmung entzündet, deren Schein bis in die DDR leuchtete und die dortige Demokratiebewegung ermutigte”, so Schneiderhan weiter. Heute stehe Lettland in der ersten Reihe derer, die die Ukraine unterstützten und Russland entschlossen begegneten.
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte nannte Levits den „tieferen Grund für den Zusammenhalt der Europäischen Union, des gesamten Europas und des Westens im weiteren Sinne” – ein politisches System, eine Lebensweise, die ein großer „Feind einer gewalttätigen Ideologie” in Russland sei.
Der Staatspräsident forderte einen Ausbau der Verteidigung und Solidarität mit der Ukraine. Europa müsse seine strategische Autonomie in der globalen Welt festigen und Abhängigkeiten mit autokratischen Mächten abbauen. Und: Die demokratischen Staaten müssten ihre Widerstandsfähigkeit auch nach innen stärken. „Demokratie darf nicht hilflos sein”, sagte Levits.
Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union verglich der Gastredner mit einem Gütesiegel, das nicht entwertet werden dürfe. Er gedachte der Opfer in der Ukraine und bekräftige den Willen zu einem vierfachen „Nie wieder!”: nie wieder Angriffskrieg, Völkermord, Unfreiheit und Unrechtsregime! (Interview mit Egils Levits)
„Die Letten wissen, wie Krieg und Terror sich anfühlen”, sagte Wolfgang Schneiderhan. In der Ukraine gehe es um die Vernichtung eines Volkes und die Auslöschung eines Staates, aber auch „um unser aller Freiheit”. Denn die Geschichte habe gelehrt: „Wenn ein Aggressor erfolgreich ist, plant er weitere Eroberungen.”
Voraussetzung der Versöhnung mit den europäischen Nachbarn sei das Schuldbekenntnis und die Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung gewesen, sagte der Volksbund-Präsident. Auch die Soldaten im Zweiten Weltkrieg zählte er zu den Opfern des nationalsozialistischen Größen- und Vernichtungswahns. Aber: Sie seien auch Täter und Mittäter gewesen – „ganz unabhängig von persönlicher Schuld”.
„Heute weinen auch russische Mütter um ihre gefallenen Söhne”, so Schneiderhan. Es werde ein sehr langer Weg sein, bis aus Kriegsgräbern in der Ukraine Stätten der Versöhnung werden könnten. Er gedachte aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft und bezog die Verletzten und Toten des russischen Angriffskrieges ein. „Aus ihren Gräbern erschallt der Ruf: ‚Nie wieder Krieg!‛”
Als Vertreterin der jungen Generation trat Rozīte Spīča aus Riga ans Rednerpult. Den leidvollen Erfahrungen ihrer Familie stellte sie das Privileg gegenüber, frei zu sprechen und für eine internationale Jugendorganisation arbeiten zu dürfen – Rechte, die vielerorts nicht selbstverständlich seien. Sie leitet das Landesbüro Lettland im Deutsch-Baltischen Jugendwerk, das der Deutschbaltischen Studienstiftung angehört.
„Wir Jugendlichen aus unterschiedlichen Ländern müssen miteinander reden – durch Begegnung, durch Musik, durch das Verständnis der Geschichte und durch das Prisma der Freiheit”, sagte sie. Das Jugendwerk bringt junge Erwachsenen aus Deutschland, den baltischen Staaten und – bis Februar 2022 – aus Russland zusammen, damit sie voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen.
Dass nichts wichtiger sei als Zusammenhalt, betonte auch Kristiāns Feldmanis. Er ist Soldat und Student der Lettischen Verteidigungsakademie und habe diesen Weg eingeschlagen, um seine Familie, seine Freunde und sein Land zu schützen. Es sei an der jüngeren Generation, ihre Länder „frei und unabhängig zu halten” und mit Mut, Disziplin und Ausdauer für ihr Heimatland einzustehen – „egal, was passiert”.
Was in der Ukraine geschieht, sei verletzend und traurig, aber auch ermutigend und inspirierend. Die Hingabe und die Bereitschaft dort, für das eigene Land und Volk einzutreten, wünsche er sich von jedem Bürger in seiner Heimat, schloss der junge Redner.
„Wir werden Euch nicht vergessen. Euer Leid ist für uns Ansporn, unsere Arbeit fortzusetzen!“ Diese Wort richtete Jan Schillmöller an Jugendliche aus der Ukraine, die 2022 an internationalen Workcamps teilgenommen hatten.
Der angehende Jurist aus München betonte den Wert der Volksbund-Arbeit, die „Jahr für Jahr Jugendliche aus ganz Europa in unsere Jugendbegegnungen zieht“ – aus Deutschland und Lettland, aber auch aus Russland und der Ukraine. Es sei schockierend, dass sich „unsere Freunde jetzt auf unterschiedlichen Seiten“ eines Angriffskrieges wiederfänden, sagte er. Schillmöller ist stellvertretender Vorsitzender des Bundesjugendarbeitskreises, der Volksbund-Nachwuchsorganisation. Seit 2018 engagiert er sich als Workcamp-Teamer.
Kann es sein, dass das Bekenntnis zu einem „Nie wieder!” erst mit der Rückkehr des Krieges nach Europa zum Handeln führt? Das fragte Almut Möller, die die Hansestadt Hamburg im Deutschen Riga-Komitee vertritt – einem vom Volksbund mitinitiierten Städtebündnis für das Erinnern und Gedenken an die Deportation von Jüdinnen und Juden.
Eindrücklich berichtete die Staatsrätin und Bevollmächtigte Hamburgs beim Bund, der Europäischen Union und für auswärtige Angelegenheiten von einer Reise nach Riga im Sommer 2022. Es brauche mehr als das Erinnern an die Opfer der Shoa – es brauche das Bekenntnis zum „Nie wieder!”, vor allem aber konsequentes und aktives Handeln.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlas traditionell das Totengedenken. Nach einer Schweigeminute erklangen das lettische und das deutsche Totensignal, bevor das Musikkorps der Bundeswehr die Europahymne und danach die Nationalhymne spielte. Die Hymne sang der Hamburger Knabenchor, der drei weitere Lieder vortrug. Zwei lettische Komponisten waren im musikalischen Programm vertreten.
Traditionell steht die Zentrale Gedenkstunde im Bundestag mit allen Verfassungsorganen unter Schirmherrschaft der Bundestagspräsidentin. Wolfang Schneiderhan hatte außer Bärbel Bas, Egils Levits und Frank-Walter Steinmeier auch den Präsidenten des Bundesrats, Dr. Peter Tschentscher, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und die Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Doris König, begrüßt.
Außerdem hatte Schneiderhan Mitglieder des Diplomatischen Korps, des Bundestages, der Landesregierung, der Bundeswehr, Repräsentanten der Glaubensgemeinschaften sowie der Partnerorganisationen des Volksbundes im In- und Ausland willkommen geheißen.
Zum ersten Mal nach drei Jahren füllten wieder mehr als 1.000 Gäste den Bundestag. Das ZDF, Phoenix und das Parlamentsfernsehen übertrugen live. In der ZDF-Mediathek ist die Zentrale Gedenkstunde auch jetzt noch zu sehen.